Investmentfonds.de
09.04.2020:
Ethikverband der Deutschen Wirtschaft (EVW): Offener Brief an die Bundesregierung
Köln, den 09.04.2020 (Investmentfonds.de) -
Dr. Irina Kummert , EVW-Präsidentin
EVW-Präsidentin Dr. Irina Kummert sagt:
"Wir haben von vielen Seiten auf unsere Initiative
viel Zuspruch erfahren. Dabei hat sich deutlich
gezeigt, dass viele sich mit einer solchen Position
nicht aus der Deckung wagen und sich dagegen
entscheiden, offen Stellung zu beziehen. Das wiederum
bestätigt die Auffassung des Ethikverbands der
deutschen Wirtschaft, dass Moral, respektive die Angst
vor moralischer Verurteilung auch dazu führen kann,
dass keine offene Debatte geführt wird. Diese Tatsache
dürfte die Anregung des Ethikrates vom 07. April, eine
offene Debatte zu führen, von vornherein konterkarieren."
Offener Brief an die Bundesregierung:
Bitte kehren Sie zur Verhältnismäßigkeit zurück!
Die Fragen werden immer drängender: Stehen der Shutdown,
also das beinahe vollständige Herunterfahren unserer
wirtschaftlichen Aktivitäten, die zu befürchtenden Kosten
für unsere Volkswirtschaft und die Konsequenzen für
jeden einzelnen von uns in einem angemessenen Verhältnis
zum bislang nur vermuteten Erfolg? Wie genau definieren
wir in diesem Kontext "Erfolg"? Beruhen die getroffenen
Maßnahmen auf einem ausreichenden Fundament bezogen auf
das, was wir wissen?
Der Gedanke ist nicht neu - schon Aristoteles hat in
seiner Nikomachischen Ethik dem Konzept der
Verhältnismäßigkeit eine zentrale Bedeutung für das
Verständnis von Gerechtigkeit und Gleichheit zugewiesen.
Im Vordergrund steht dabei die Überlegung, dass eine
Handlung nur dann angemessen ist, wenn widerstreitende
Interessen oder Werte ausreichend abgewogen worden sind.
Für Aristoteles gehören zu einem glückseligen Leben
sowohl äußere Güter wie Geld und Ehre im Sinne von Erfolg,
als auch innere Güter wie Gesundheit. Erst die Kombination
aus beidem ergibt für ihn ein lebenswertes Leben. Wir tun
derzeit so, als müssten wir uns entscheiden: Entweder Leben
oder Öffnen der Betriebe. Letztlich aber gehen wir noch
viel weiter: Wir verrechnen Leben gegen wirtschaftliche
Existenzen und damit Leben gegen Leben.
Das Gebot der Verhältnismäßigkeit ist ein wesentlicher
Bestandteil unseres Rechtsstaatsprinzips. Verhältnismäßigkeit
ist dann gegeben, wenn jede Maßnahme, die unsere Grundrechte
beeinträchtigt, nachweislich in einem statthaften
öffentlichen Interesse, insofern erforderlich und geeignet
im Sinne von angemessen ist. Inhärenter Bestandteil dieses
Prinzips ist immer auch der Ermessensspielraum desjenigen,
der die Maßnahme anordnet. Unserer Bundesregierung dezidiert
vorzuwerfen, dass sie diesen Ermessensspielraum ausgenutzt
oder fehlerhaft ausgeübt hat, ist angesichts dessen was auf
der anderen Seite der Waagschale liegt, nämlich der Anspruch,
Menschenleben schützen zu wollen, schwierig. Schwierig
insbesondere deshalb, weil jetzt, ex ante, also unter
Unsicherheit, über etwas entschieden werden muss, was wir
noch nicht abschließend einschätzen können.
Der deutsche Ethikrat hat in seiner jüngsten Stellungnahme
bezogen auf die Corona-Pandemie und die damit einhergehenden
Konsequenzen für unsere Gemeinschaft den Begriff der "Tragik"
formuliert und damit gleichzeitig festgestellt, wir seien
grundsätzlich einem allgemeinen Lebensrisiko ausgesetzt,
das wir anerkennen, das wir akzeptieren müssen. Es ist
richtig, dass wir regelmäßig Risikoabwägungen treffen und
letztlich damit umgehen müssen, dass Unsicherheiten im
Gegensatz zu den meisten Risiken nicht messbar, nicht
allokierbar und damit nicht greifbar sind. Wenn wir das Etikett
der Tragik akzeptieren, dann akzeptieren wir zugleich etwas
Unabänderliches, Schicksalhaftes, für das wir scheinbar
alternativlos einen hohen Preis bezahlen müssen.
Die Initiatoren dieses Schreibens geben zu bedenken, dass die
Konsequenz daraus Resignation bedeuten und als Flucht vor der
Übernahme oder gar als Delegation von Verantwortung an eine
"höhere Macht" interpretiert werden kann. Wir stellen fest,
dass es im Angesicht unzähliger Menschen, die sich um ihre
wirtschaftliche Existenz sorgen, Aufgabe, ja Verpflichtung ist,
den Versuch zu unternehmen, das scheinbar Unausweichliche
abzuwenden. Es gilt daher, auch unter erschwerten Bedingungen
unserem Leben, im aristotelischen Sinne verstanden als eine
Einheit von Ehre im Sinne von wirtschaftlichem Erfolg und
(sic!) Gesundheit, wieder Raum zu geben.
Wir plädieren daher dafür, den Menschen mehr Eigenverantwortung
zu übertragen und dem Vorbild unseres Nachbarlandes Österreich
folgend nach Ostern die Betriebe unter Einhaltung der
Abstandsregeln wieder zu öffnen.
Berlin, 09. April 2020 München, 09. April 2020
Dr. Irina Kummert Prof. Dr. Christoph Lütge
Präsidentin Peter Löscher-Stiftungslehrstuhl
Ethikverband der deutschen Wirtschaft e.V. für Wirtschaftsethik
TUM School of Governance
Technische Universität München
Frankfurt am Main, 09. April 2020 Hannover, 09. April 2020
Prof. Dr. Klaus-Jürgen Grün Prof. Dr. Stefan Homburg, StB
Vize-Präsident Institut für Öffentliche Finanzen
Ethikverband der deutschen Wirtschaft Leibniz Universität Hannover
Chemnitz, 09. April 2020 Bad Homburg, 09. April 2020
Prof. Dr. Heiner Rindermann Prof. Dr. Yvonne Thorhauer
Institut für Psychologie Forschungsleitung
Technische Universität Chemnitz accadis Hochschule Bad Homburg
Quelle: Investmentfonds.de
|