ifo Standpunkt: Wer vom Euro profitiert
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Viele Finanzminister der EU sehen das angesichts der deutschen Exportüberschüsse so. Sie wollen Deutschland deshalb zwingen, die Löhne zu erhöhen, um diese Überschüsse zu verringern. Sie übersehen dabei aber, dass Exportüberschüsse definitorisch den Abflüssen von Kapital entsprechen. Kapital ist das Lebenselexier des kapitalistischen Systems. Wo es hin fließt, erblüht die Wirtschaft, wo es abfließt, erschlafft sie. Es ist deshalb abwegig, die Exportüberschüsse als Handelsgewinne zu interpretieren. Deutschland hat in den Jahren vor der Krise einen Aderlass an Kapitalexporten erlitten, die für Infusionen in die Wirtschaften der südwestlichen Peripherie Europas, aber auch der angelsächsischen Länder und Frankreichs verwendet wurden. Der Bluttransfer hat mitgeholfen, dort einen beispiellosen Boom der Binnen- konjunktur hervorzurufen, der sich von den Immobilienmärkten über die gesamte Wirtschaft erstreckte, während Deutschland erschlaffte. Seit der Ankündigung des Euro Mitte der 1990er Jahre war Deutschland der zweitgrößte Kapitalexporteur der Welt nach China. Der Löwenanteil seiner Ersparnisse floss in andere Länder, anstatt zuhause investiert zu werden. Im Mittel der Jahre 1995 bis 2008 wurden 76% der deutschen Ersparnisse (Private, Staat und Unternehmen) im Ausland und nur 24% im Inland investiert. Deutschland hatte in dieser Zeit die niedrigste Nettoinvestitionsquote aller OECD-Länder und die zweitniedrigste Wachstumsrate aller europäischen Länder. Beim BIP pro Kopf fiel selbst Westdeutschland immer weiter hinter Frankreich zurück. Die Bilanz eines Euro-Gewinners sieht anders aus. Der binnenwirtschaftliche Boom, den die Kapitalabflüsse in Euroländern wie Griechenland, Spanien, Irland und, in begrenztem Maße auch Frankreich, erzeugte, entwickelte sich in diesen Ländern auf dem Wege einer raschen Zunahme der Bautätigkeit. Die Bauarbeiter fanden Beschäftigung und gaben ihre Verdienste für Konsumgüter aus. Die Eigentümer der Immobilien erfreuten sich hoher Vermögenszu- wächse, die sie zu weiteren kreditfinanzierten Investitionen veranlasste. Alles führte zu einem hohen realen Wachstum, aber auch zu einer inflationären Überhitzung, die die Wettbewerbsfähigkeit verringerte und zu Defiziten im Außenhandel führte. Diese Defizite waren das notwendige Gegenstück der Kapitalimporte. In Deutschland war es umgekehrt. Dort lösten die Kapitalabflüsse eine binnenwirt- schaftliche Flaute mit fallenden Immobilienwerten aus. Als Ergebnis der Flaute stiegen die Güterpreise und Löhne nur noch ganz wenig, viel langsamer als in den Nachbarländern. Von 1995 bis 2008 hat Deutschland gegenüber seinen EU-Partnern real um 18% abgewertet. Diese Abwertung hat die Exportüberschüsse Deutschlands ermöglicht. Für sich genommen waren die Überschüsse ein willkommener Ersatz für die wegbrechende Binnenkonjunktur. Sie waren aber kein Zeichen der Stärke des Landes, sondern das Ergebnis der Schwäche durch jahrelangen Blutverlust. Hier liegt der entscheidende Interpretationsfehler der EU-Finanzminister. Die deutschen Kapitalabflüsse waren nicht allein das Ergebnis des Euro. Ich habe Deutschlands Standortschwäche, insbesondere die übermäßige Regulierung des Arbeitsmarktes und die Sozialpolitik, in früheren Jahren häufig problematisiert. Diese Standortschwäche wurde indes zu einem besonderen Problem, als der Euro eingeführt wurde, denn mit ihm wurde ein einheitlicher Kapitalmarkt in Europa geschaffen, auf dem die vormals riesigen Zinsunterschiede verschwanden. Das Finanzkapital konnte die Grenzen nun ungehindert und scheinbar risikofrei über- winden, um im Ausland ertragreiche Projekte zu finanzieren. Das war ein gewaltiger Vorteil für die Kapitalimportländer. Auch profitierten die deutschen Kapitalanleger, oder glaubten es zumindest. Doch die deutschen Arbeitnehmer, deren Produktivität und Lohnniveau maßgeblich vom Kapitaleinsatz im Inland abhängig ist, erlitten schmerzliche Verluste, die die deutsche Gesellschaft vor eine Zerreißprobe gestellt haben. Nun zeigt die europäische Schuldenkrise, dass manche der versprochenen Renditen doch nicht erzielt werden können. Viele deutsche Kapitalanleger werden ihr Geld nicht mehr wiedersehen. Dies veranlasst sie, umzudenken. Die Zinsspreads steigen wieder, und das Sparkapital wird wieder verstärkt zuhause angelegt. Ein Bauboom beginnt gerade in Deutschland. Immobilien gehen heute weg wie warme Semmeln, und der Auftragsbestand der Architekten ist so hoch wie seit 15 Jahren nicht. Auch liegt das deutsche Wachstum erstmals seit langem wieder an der Spitze der Eurozone. Spiegelbildlich passiert jetzt das, was in Europas südwestlicher Peripherie während der letzten fünfzehn Jahre geschah. Während die ehemaligen Schuldenländer stagnieren, boomt Deutschland. Die Löhne und Preise werden deswegen in den kommenden Jahren wieder schneller steigen. Das wird die deutsche Wettbewerbs- fähigkeit verringern und die Außenhandelsüberschüsse verkleinern. Der Boom bedeutet nicht, dass es keine Konjunktur mehr gibt. Konjunkturelle Rückschläge gibt es immer wieder von neuem. Es bedeutet aber, dass sich der mittelfristige Trend gegenüber der Entwicklung, die ohne die Eurokrise zu erwarten war, signifikant verbessern wird.
Nur eine Einschränkung ist für dieses Szenarium machen. Es gilt unter der Voraus- setzung, dass die Euro-Rettungspakete nicht oder nur in modifizierter Form verlängert werden. Wenn wir unseren Konkurrenten auf dem Kapitalmarkt unsere eigene Bonität schenken, indem wir ihnen den bedingungslosen Freikauf, quasi eine Vollkaskoversicherung gegen Zahlungsunfähigkeit, anbieten, dann wird das Kapital wieder im Übermaß aus Deutschland heraus fließen. Dann heizen wir Länder wie Griechenland, Spanien oder Irland weiter auf und verlängern bei uns die Flaute. Die Fehlentwicklungen, zu denen es unter dem Euro kam, werden dann perpetuiert, und Deutschland wird beim Wachstum neben Italien wieder seine vertraute Schluss- lichtposition einnehmen. Hans-Werner Sinn Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft Präsident des ifo Instituts
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